Der Tag, an dem nichts mehr ging

Recoverygeschichte zum 21.12.2019 von Michaela Samietz

Der Tag an dem nichts mehr ging kam mit Anfang 40. Ich schreibe bewusst nicht, „die Krankheit kam mit 40“. Denn dann müsste ich gleich mit den ganz großen Fragen einsteigen: ab wann genau ist man krank, was ist gesund? Was ist „die Krankheit“? Wann hat alles begonnen? Das wäre dann ein ganzes Buch…. zumindest aber mehr als ein Beitrag.

Darum zurück zum Konkreten. „Der Tag an dem nichts mehr ging“ trifft es schon sehr gut. Seelische Schmerzen gab es auch schon früher. In dunkelbunten und lebensphasenspezifischen Variationen; über weite Phasen sehr gut „weggepackt“, an manchen Tagen einfach gut „versteckt“.

Aufgewachsen als Kind eines psychisch erkrankten Elternteils und Teil der Nach-Nachkriegsgeneration lautete der Selbst-Appell bzw. die Selbst-Anklage: „Dir geht’s doch gut!“ Bis zum persönlichen Wendepunkt habe ich zumindest in mancherlei Hinsicht gut „funktioniert“. Im positiven und auch im sehr ungesunden Sinn. 

Der persönliche Wende- bzw. in meinem Fall Nullpunkt kam dann wie gesagt in der sogenannten „Mitte des Lebens“. Begrifflichkeiten, wie „Implosion“, „Stecker raus“ und andere Bilder sind keine schlechten Umschreibungen für einen völligen Zusammenbruch. Bei mir kam dieser nach einer Phase massiver beruflicher Überlastung. Rückblickend weiß ich, dass da äußere Umstände und persönliche Ausstattung aufs „Vortrefflichste“ zusammenpassten. Klar, die berufliche Herausforderung war groß. Und doch weiß ich heute, dass ich selbst es war, die sich im Versuch, „ein bisschen Welt zu retten“ völlig aus den Augen und dann selbst verloren hat (da bekommt der Begriff „Herzblut“ einen ganz anderen Klang). Bis ich buchstäblich im Galopp aus dem Sattel fiel und nicht mehr aufstehen konnte. Keine Wahl, keine Entscheidung einfach ein Fakt. 


Eine Reise ist kein Schritt oder wie Phönix einfach nicht aus der Asche kommen wollte

Die Zeit danach bzw. meine persönliche „Reise“ hatte verschiedene Stationen. Teilweise habe ich Schwierigkeiten, einen Zugang zu den dunkleren Phasen zu finden; geschweige denn, sie in Worte zu fassen. Manches kann ich in meinen Tagebüchern nachlesen. Z.B. wenn ich mir in Erinnerung rufen möchte, wie wichtig es ist, auf sich aufzupassen. Oder um zu sehen, wie „weit“ ich schon gekommen bin, wenn ich mal wieder zu streng mit mir bin. 

Technisch gesehen litt ich nach dem ersten Breakdown über Jahre an „rezidivierenden Depressionen“. Für mich trifft es das nur bedingt. Es klingt so digital: Depression kommt und geht. Meine eigene Wahrnehmung ist ein Andere: „Heilung“ bzw. Entwicklung ist nicht immer ein linearer Aufstieg. Manchmal ist es ein Prozess – mit Aufs und Abs, vor und zurück. Das muss nicht bei jedem so sein; in meinem Fall war es so. 

Meine „Lessons learned“ in diesem Prozess:

Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.

Heilung, Wachstum, Entwicklung, all diese Dinge lassen sich nicht einfach „machen“ (auch wenn wir das gerne hätten); manches braucht Zeit. Und wer weiß, vielleicht hätte ich sogar ein bisschen Zeit „sparen“ können, wenn ich nicht zu früh wieder „losgerannt“ wäre und mir mit überzogenen „Phönix aus der Asche-Ambitionen“ und selbst gemachten „Du darfst auf keinen Fall mehr krank werden-Hirndurchsagen“ zusätzlichen Druck gemacht hätte.

Die Magie der kleinen Schritte

Der kleinste Schritt, die kleinste positive Veränderung macht einen Unterschied. Jede Verbesserung ist in dem Moment viel, und kann Mut machen für die nächsten Schritte. Das gilt in der Mikro-Perspektive (wenn man versucht, sich von einer Minute zur nächsten zu retten); und das gilt auch für die Reise insgesamt. 

Rückschläge sind keine Niederlagen

Auch wenn es sich zwischenzeitlich so anfühlt. Vielleicht fällt man nicht so tief oder man kommt schneller wieder raus; und manchmal kann man sich mit dem Wissen um Besserung selbst den Rücken stärken (Zitate aus meinem Tagebuch: „Es bleibt nicht so!“; und „Die Farben sind noch da, auch wenn Du sie gerade nicht sehen kannst“). Und letztlich kann man im Nachhinein oft sagen: „wieder was gelernt“.
By the way: der Schlimmste Einbruch nach dem Nullpunkt hat für mich eine entscheidende Wende gebracht. War es Unglück?

Ein Versuch ist es wert!

Ich habe auf der Suche nach Möglichkeiten, mir selbst zu helfen Dinge „ausprobiert“ und für mich entdeckt, zu denen ich früher keinen Zugang fand. Imaginationen, Schreiben, Malen, Atemtechniken usw. Das Meiste gehört bis heute zu meinem persönlichen „Survival-Kit“. Vieles geht darüber sogar weit hinaus. Achtsamkeit und vor allem Selbstmitgefühl wurden für mich vom Lebensretter zur neuen Lebenshaltung. Und damit zu einem echten Quell von Lebensqualität!

Try Walking in your own shoes

Ich habe lange gebraucht, damit aufzuhören, mich an „den Anderen“ zu messen bzw. mich gegenüber „imaginären Beurteilern“ zu rechtfertigen. Doch wie unfair sind Vergleiche; uns selbst und anderen gegenüber. Zum einen vergleichen wir die polierte Außenfassade und den photogeshopten Web-Auftritt der Anderen mit unserem Gerümpel-Keller und den dunkelsten Ecken unserer Seele. Wer weiß denn schon wirklich etwas von denjenigen, mit denen er sich meint messen zu müssen? Zudem ist das Leben ein hochkomplexes Wirkzusammenhangsknäuel das letztlich dazu führt, warum wir da stehen wo wir stehen. Und eine Birke ist eben keine Eiche, und ein Pinguin kann nicht auf Bäume klettern (dafür aber sehr elegant schwimmen). Fazit: Du kannst Dich letztlich nur an Dir selbst messen. Und aus Deinen Karten, die Du im Leben gezogen oder auch zugeteilt bekommen hast, versuchen das „Beste“ zu machen. 

Was angenommen ist, kann sich verändern

Das therapeutische Paradoxon. Für mich persönlich kann sich sagen: sehr wahr. Auch ich kenne den Wunsch nach „weg machen“. Doch erst das annehmen meiner selbst, in meinem „so sein“ hat die Basis für echte Veränderung gebracht.

Veränderung kommt manchmal leise

So vertraut wie der „Mach das Weg-Wunsch“ ist mir die Sehnsucht nach dem großen „Bähm“. Aber Veränderung kommt manchmal leise. Und dann sitzt mal plötzlich da und denkt: „ach, schau an, das hätte ich früher nicht gekonnt“ oder „da wäre es mir vorher noch ganz anders gegangen“. Oder man sitzt da, schaut den Hunden beim Hundsein zu und das Herz wird ganz weit; und man freut sich über eine stille Freude, die so unspektakulär und doch so wundervoll ist, weil sie warm von innen strahlt.

Happy Zwischenstand

Ja, es geht mir heute gut! Nicht ohne Wellen, sie sind Teil des Lebens. Ich weiß auch, dass ich auf mich achten muss. Aber ich weiß heute eben auch, wieviel ich selbst tun kann, um mir zu helfen und mich zu stärken. In Summe fühle ich mich in jedem Fall als ein zufriedenerer, glücksfähigerer, innerlich reicherer und „ganzerer“ Mensch, als ich es „vor meiner Erkrankung“ war. Und sehr wahrscheinlich nicht trotz sondern weil ich erlebt habe, was ich erlebt habe. Und weil die Suche und die Versuche mich zu retten so viel Positives in mein Leben gebracht haben, kann ich heute sagen „vieles hätte ich mir nicht bestellt, wünschen tue ich es auch niemandem, aber ich möchte nicht auf das verzichten, was daraus Positives erwachsen ist“. 

Dieses Positive kann ich heute auch in meine Arbeit einbringen. Mit Menschen habe ich schon immer gearbeitet. Aber auch hier bemerke ich, dass meine Erfahrungen und auch meine neue Offenheit, die Begegnungen „bereichern“. Ich kann heute Mut-Impulsgeberin sein und andere Menschen darin bestärken, wie sie sich selbst stärken können. Mit oder ohne „Krankheit“; einfach im „Mensch sein“.


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