Von Kindern lernen

Recoverygeschichte zum 11.12.2019 von anonym


Meine Recovery Geschichte

Tapp, tapp – Plumps. Mit Feuereifer und rotem Gesicht zieht sich mein eineinhalb-jähriger Neffe unermüdlich an Sessel-, Tisch oder Menschenbeinen immer wieder hoch, um den Raum zu entdecken. Anfangs waren es nur ein paar Schritte, jetzt marschiert er schon fast quer durch das Wohnzimmer und der Erfolg ist sichtbar.

Hinfallen, Aufstehen, „Krone richten“ und weiter geht’s. Dieses Motto lebt mein Neffe mit großer Beharrlichkeit, somit ist er für mich ein stetiges Vorbild, da Hinfallen ja leider oft genug zu meinem Alltag dazu gehört. Dabei hat mir aber immer wieder die enorme, lebensbejahende Haltung meiner kleinen Nichten und Neffen geholfen und mir Kraft gegeben, die vor kindlicher Freude, Begeisterungsfähigkeit, Tatendrang und einem unendlichen Explorations- und Entwicklungsbedürfnis nur so strotzen. Authentischere Genesungsbegleiter kann man sich gar nicht wünschen. 

„Magst du mal kosten?“ Meine dreijährige Nichte hält mir eine süße Rosine vor die Nase. „Voll lecker! Und wenn‘s dir nicht schmeckt, spuckst‘ sie halt einfach aus.“ Das klingt gut. So einfach kann es sein und so geht auch ihr Zwillingsbruder mit Nahrungsaufnahme um, denn er sucht sich aus dem bunten Obst- und Gemüse-Potpourri, das wir für die Jause kleingeschnitten haben, völlig unverfroren alle kernlosen Weintrauben heraus. Die Schale wird ausgespuckt. „Bäh!“ Schließlich muss man ja nicht alles schlucken, was einem im Leben so vorgesetzt wird. Wieder etwas, was mir im sehr angespannten Umgang mit Ernährung und Sättigung im weitesten Sinne, enorme Erleichterung bereitet. Was nicht entspricht und mundet, wird einfach aussortiert.

Dieses natürliche „Spüren, was einem guttut und danach handeln“ drückt sich für mich in einer Ganzheitlichkeit aus und zieht sich durch fast alle Bereiche des Seins: Versorgt sein, mit Nahrung, mit Zuwendung, mit Wärme, Impulse und Emotionen auszudrücken, wenn diese einen zu erdrücken drohen, Bewegungsdrang zu fühlen, sich auszutoben und danach in zufriedenen Schlaf zu verfallen. Nach diesem intuitiven „Für mich Sorgen“, das selbstverständlich in der kindlichen Entwicklungsphase die erwachsene Begleitung und Sicherheit braucht, danach sehne ich mich.

Kinder veranschaulichen für mich immer wieder die Wichtigkeit einer Balance von Zugehörigkeit, Gemeinschaft einerseits und Autonomie, Freiraum andererseits. Auch für mich ist es ein so essentieller Wunsch, Teil einer Gruppe, einer Gemeinschaft zu sein, geliebt, geschätzt zu werden, Partizipieren zu können und so Austausch und Bestätigung zu erfahren. Und dies gerade in meiner Position einer Betroffenen, Psychiatrieerfahrenen, „psychisch Erkrankten“. Genauso bedeutend ist aber dieses Streben nach Autonomie, Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit für mich, mein Handeln und mein Dasein in meinem Umfeld. Je mehr ich meine Welt selbst gestalten, meinen Interessen und Affinitäten folgen kann, je mehr ich für mich eintrete und auch Widerstand leiste, wenn nötig, umso mehr gesundet und reift mein Inneres, umso verbundener fühle ich mich mit mir. So können Teile in mir nachwachsen, sich nachentwickeln, wie ein Kind. Das kleine Pflänzchen darf immer beständiger, stärker und widerstandsfähiger werden, bis es vielleicht eines Tages sogar noch in voller Pracht erblühen mag. 

Solche Wandlungs- und Transformationsprozesse werden auf berührende Art und Weise in Kinderbüchern thematisiert. Anschaulich dargestellt und kindgerecht aufbereitet, stecken sie doch voll sprachlicher Bilder, beinhalten Symbole und Metaphern und ermöglichen auch Erwachsenen noch Momente des Staunens. Sei es die Raupe Nimmersatt, die sich nach langer Zeit und Anstrengung im engen Cocon, zu einem wunderschönen Schmetterling entwickelt, das kleine Ich-bin-Ich oder Frederick, die Maus, die Sonnenstrahlen und positive Gedanken als Seelennahrung sammelt, um für den Winter vorbereitet zu sein. Von sprachlichen und imaginativen Bildern (Naturphänomene, Tierbabies, Orte von Geborgenheit und Wärme etc.) geht eine heilsame Stärke aus, die mir immer wieder ein Licht in dunklen Zeiten aufgezeigt hat. 

Doch neben der kindlichen Welt, habe ich auch von Erwachsenen viel Unterstützung erfahren. In großem Maße sicherlich durch meine Familie, insbesondere meine Eltern, die trotz eigener Involviertheit, Sorge und eigenem Schmerz zu jeder Zeit unterstützend an meiner Seite sind und mich von Herzen lieben. Genauso gab es auch außerfamiliär immer wieder Rettungsanker, Schutzengelchen, die mich in schweren, krisenhaften Zeiten davor bewahrt haben, aufzugeben oder „durchzudrehen“. Dazu zählen für mich manch besonders empathische Ansprechpersonen auf Krankenhausstationen, MitarbeiterInnen von sozialen Institutionen, die durch ihre Menschlichkeit, wertschätzende Haltung den Klienten gegenüber und durch enormes Engagement zu stabilen Begleiterinnen werden können und wichtige Bezugspersonen darstellen. Von ganz besonderer Wichtigkeit sind natürlich Therapeuten und Therapeutinnen, die mich durch hohe fachliche Kompetenz, verbunden mit einer bodenständigen, liebevollen und wohlwollenden Einstellung mir gegenüber nachhaltig geprägt haben. Durch ihre Begleitung, ihr präsentes Gegenüber, konnten sich viele krankmachende Haltungen und Glaubenssätze in mir wandeln, konnte ich mir selbst Spiel- und Experimentierräume zugestehen und neue Sichtweisen auftauchen lassen. Dies ermöglicht, eiserne, verinnerlichte Denkstrukturen aufzuweichen und alte Gewohnheiten – anstatt sie zum Fenster zu werfen – Stufe für Stufe zur Tür zu begleiten. 

Natürlich plagen mich nach wie vor viele meiner Symptome, depressive Phasen und Erschöpfungszustände, Migräneanfälle, Schlafstörungen und mein sehr schwieriges Essverhalten schränken mich täglich in meiner Lebensqualität ein und viele Vorstellungen und Wünsche bleiben unerfüllt. Doch es bleibt ein beständiger Blick für die positiven Entwicklungen, für individuelle Fortschritte, kleinste Erfolge, auch wenn diese für andere kaum erkennbar sind. Nicht zu vergessen sei meine starke Dankbarkeit, verbunden mit einer unerschütterlichen Hoffnung und Überzeugung, dass alles heilen darf und nach Entfaltung strebt, so wie ich es immer wieder von meinen kleinen Nichten und Neffen vorgelebt bekomme. 

4 Kommentare

  • Sandra

    Sehr ansprechend und authentisch beschrieben. Ich erlebe auch gerade einen 18 Monate alten Neffen. Und ist das beste Antidepressiva schlechthin. Und die „schlimmste“ Nebenwirkung mit ihm: Man vergisst sein ganzes Drum-herum, wenn ich Zeit mit ihm verbringen darf.

  • Anne

    Danke! Für mich eine super Erinnerung an mein inneres Kind. Das zeigt uns das zusammensein mit Kindern und heilt die Wunden.