„Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“

Recoverygeschichte zum 01.12.2019 von Martha Pany


Die wichtigste Erkenntnis auf meinem bisherigen Recoveryweg war, dass das Ziel nicht ist, nach außen hin perfekt zu funktionieren, sondern meinen eigenen Weg für mich zu finden. Ich muss nicht immer stark sein und Leistung bringen, ich darf einfach so sein, wie ich bin. Das ist Herausforderung genug! 🙂

Es ist ein vollkommen anderes Lebensgefühl, wenn ich darauf achte, was mir gut tut, welche Bedingungen ich brauche, um mich wohlzufühlen und einbringen zu können und was mich freut und motiviert. Meine Eigenheiten und Verletzlichkeiten bekommen so ihren Platz. Sie sind nicht mehr nur störend, sondern ich kann die Schätze nutzen, die darin liegen.

Der Weg zu dieser Haltung war ein langer. Von einer Essstörung über Depressionen zu einer Borderline-Diagnose, die sich zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt, die sich schließlich komplexer zeigt, als ursprünglich gedacht. Lange Jahre der Verzweiflung in meiner Jugend und immer wieder das quälende Gefühl „etwas stimmt mit mir nicht, ich bin falsch und sollte anders sein“.
Um endlich „richtig“ zu werden, gab es viele Versuche – Psychotherapie, Psychopharmaka, Psychiatrie, eine betreute Wohngemeinschaft, den psychosozialen Dienst. Außerdem alternative Heiler, schamanische Zeremonien, Gebete und viele kleine Projekte und Selbstversuche, um zu lernen, mich in meinem Leben zurechtzufinden.

Ein Faktor, den ich dabei vergessen hatte, war die Zeit. Schnellstmöglich wollte ich den ganzen Schmerz hinter mir lassen und „normal“ funktionieren. Aber es braucht Zeit, um alte Schmerzen zu verdauen und zu integrieren. Meine Erfahrung ist, dass ich diesen natürlichen Prozess auch nicht beschleunigen kann. Ich kann nur aufhören, ihm im Weg zu stehen. Druck und Härte mir selbst gegenüber helfen nicht, aber Mitgefühl, Verständnis und liebevolle Zuwendung geben meinem System den Raum, durch den Schmerz zu tauchen und irgendwann wieder daraus hervorzukommen. Demut vor der Komplexität des Lebens und des Mensch Seins hilft dabei, auszuhalten, dass dieser Prozess andauert. Aber es wird mit der Zeit leichter, auch während der Schmerzwellen schöne Dinge rundherum wahrzunehmen. Nicht mehr ganz im Schmerz zu versinken, sondern Hoffnung zu haben, dass es nach dem durchtauchen sogar noch besser sein wird als zuvor, weil es schon so oft so war. Die Wellen werden weniger überwältigend und das Tauchen vertrauter und irgendwann einfach Teil des Alltags.

Sich selbst in seinen Tiefen kennenzulernen ist ein Geschenk. Es ist meist hässlich verpackt und das Auspacken kann verdammt anstrengend sein. Aber es bleibt ein Geschenk.

Wenn ich das Bild aufgebe, dass ich als Mensch auf eine bestimmte Art funktionieren muss und mich darauf einlassen kann, so zu sein wie ich bin; wenn ich die Schönheit in der zerbrochenen und sich wieder neu zusammensetzenden Seele sehen und Demut vor dieser Komplexität spüren kann; dann merke ich, dass alles gut ist, so wie es ist. Mensch Sein ist eine vertrackte, komplizierte, schmerzhafte und wunderschöne Angelegenheit – und was wollen wir eigentlich mehr als das?

4 Kommentare

  • Khoshgel

    „…die Hoffnung zu haben, dass es nach dem durchtauchen besser sein wird als zuvor…“
    Auch nach 10 Jahren spüre ich keine Hoffnung, keine Akzeptanz für den Schmerz. Er hat mich verändert, vielleicht bin ich reifer geworden. Er hat mein Leben in zwei Leben geteilt. Er hat mich gelehrt, dass die Zeit alleine keine Wunden heilt und dass ich nicht das Beste aus dem Schmerz machen kann.
    Mein Weg ist noch lang… Danke dir für deine Geschichte!

  • Hermine Tüchler

    Ich freue mich richtg für dich, dass du es geschafft hast. Dein Weg war mit vielen großen und kleinen Steinen gepflastert. Ich wünsche dir: Gesundheit für Körper Geist und Seele, und daß du noch vielen Menschen den Weg zu einem lebenswerten Leben weisen kannst!

  • Sabine Schemmann

    Liebe Martha,
    das Wichtigste zuerst: Ich freue mich ehrlich, dass Dein Wunsch, einen solchen Adventskalender auf den Weg zu bringen, in Erfüllung gegangen ist. Vielleicht haben wir das mit vereinten Kräften geschafft? 😉

    Deine eigene Geschichte, die Du als erste eingestellt hast, hat mich tief berührt und den Wunsch entstehen lassen, dass wir uns im Verein doch mal besser kennen lernen sollten. Da sind mit einem Mal so viele Fragen und aufrichtiges Interesse an möglicherweise parallelen Entwicklungen – und außerdem die für unser Jubiläum geplante Ausstellung…

    Du findest sehr gute und treffende Worte und schaffst es auf Mut machende Weise, Hoffnung zu verbreiten. Ein sehr sensibler Text und ein wunderschönes Foto, das Du selbst „geschossen“ hast? Ich traue es Dir zu, dieses Auge für die passenden Motive zu haben.
    Liebe Grüße…